Meeresforschung

Mysteriöser Mollusk aus der Tiefsee identifiziert

Quallenartige Leucht-Kreatur ist in Wahrheit eine Meeresschnecke

Foto der neu identifizierten Nacktschnecken-Art Bathydevius caudactylus
Die in der Tiefsee lebende neu identifizierte Nacktschnecken-Art Bathydevius caudactylus schwimmt mit einem Fingerschwanz, nutzt eine höhlenartige Kapuze, um Nahrung zu fangen, und leuchtet in brillanter Biolumineszenz. © 2014 MBARI

Kuriose Kreatur: Meeresforscher haben ein „mysteriöses Weichtier“ als neue Nacktschneckenart identifiziert – die erste, die in der Tiefsee lebt. Die Meeresschnecke schwimmt wie eine Qualle durch den Ozean und fängt Nahrung wie eine fleischfressende Pflanze mit ihrer Haube. Das durchsichtige Tier ist nahezu unsichtbar, leuchtet aber gelegentlich dank Biolumineszenz hell auf. Zudem wirft sie wie eine Eidechse Körperteile ab. Ihre kuriosen Eigenschaften sind wahrscheinlich Anpassungen an das Leben in ihrem harschen Lebensraum.

Die Tiefen der Ozeane sind noch immer weitgehend unerforscht. Erst ein Bruchteil der Lebenswelt der Tiefsee mit ihren teils bizarren Anpassungen an Druck, Dunkelheit und Kälte, sind bisher bekannt. Meeresforscher entdecken daher immer wieder aufs Neue überraschende Bewohner dieser Regionen. Einen dieser rätselhaften Tiefseebewohner beobachteten Biologen im Februar 2000 in Aufnahmen eines Tauchroboters: In der Monterey Bay in Kalifornien filmte dieser in 2.614 Meter Tiefe ein seltsam aussehendes Weichtier, das hell leuchtete.

Mysteriöses Weichtier

Obwohl Forscher in den folgenden 20 Jahren immer wieder Aufnahmen von dem „mysteriösen Mollusk“ im östlichen Pazifik machten, blieb unklar, um was für eine Tierart es sich handelte. Nun haben Bruce Robison und Steven Haddock vom Monterey Bay Aquarium Research Institute (MBARI) die Aufnahmen von über 150 Begegnungen mit mehr als 100 Exemplaren dieses Weichtiers analysiert und es erstmals detailliert beschrieben.

Demnach besitzt das bis zu 15 Zentimeter lange Meerestier an einem Ende eine voluminöse Kapuze oder Haube und am anderen Ende einen flachen Schwanz, der mit neun bis 16 fingerartigen Vorsprüngen gesäumt ist. Zudem besitzt der Tiefsee-Mollusk auch einen Fußbereich. Dazwischen beobachteten die Forscher, dass der Körper des „mysteriösen Weichtiers“ gelegentlich bunt und hell leuchtet. Auf dem Rücken trägt es Kiemen und zwei für Schnecken typische Geruchsorgane, die Rhinophoren.

Erste bekannte Nacktschnecke aus der Tiefsee

Diese Eigenschaften allein erklären aber noch nicht, um was für ein Tier es sich handelt. Daher entnahmen Robison und Haddock auch Gewebeproben und analysierten diese im Labor hinsichtlich Anatomie und Genetik. Vergleiche mit anderen Meerestieren ergaben schließlich, dass es sich bei dem Mollusk um eine zuvor unbekannte marine Nacktschnecke handelt.

Die Gen-Analysen zeigten, dass diese neue Molluskenspezies sogar einzigartig genug ist, um eine neue Familie zu begründen: die Bathydeviidae. Im Stammbaum der Meeresschnecken hat sich diese wahrscheinlich schon sehr früh abgespalten, berichtet das Team. Die neue Art haben sie Bathydevius caudactylus getauft, in Anlehnung an seine fingerartigen Vorsprünge am Schwanz und sein „hinterhältiges“ Erscheinungsbild.

Die meisten Meeresschnecken leben am Meeresboden, überwiegend in flachen Küstenregionen. Einige wenige sind auch an tieferen Böden oder an der Ozeanoberfläche zuhause. Das neu identifizierte Exemplar scheint jedoch in der sogenannten Mitternachtszone der Tiefsee zwischen 1.000 und 4.000 Metern Tiefe zu leben – weit entfernt von Boden und Oberfläche. Es ist damit die erste bekannte Nacktschnecke mit diesem Habitat. Zwar haben andere Forscher im Marianengraben im Westpazifik ein ähnlich aussehendes Tier beobachtet. Ob es sich dabei um dieselbe Art handelt, ist jedoch noch unklar.

Schnecke frisst wie Venusfliegenfalle

Doch wie kann eine Meeresschnecke in der unwirtlichen Mitternachtszone überleben? Offenbar hat das mysteriöse Weichtier dafür eine einzigartige Mischung an Körpermerkmalen entwickelt. Dazu zählt zum einen seine bis zu neun Zentimeter große, elastische und gewölbte Haube. Diese nutzt die Schnecke wie eine Falle, um Krebstiere zu fangen, wie das Team berichtet. Direkt hinter der Kapuze befindet sich eine trichterförmige Mundöffnung, mit der die Schnecke die Beute dann langsam verdaut.

Eine solche haubenartige Fresstaktik wenden neben Venusfliegenfallen-Pflanzen auch einige Quallen, Anemonen und Manteltiere sowie zwei Flachwasser-Meeresschnecken an. Unter Meeresschnecken ist die neue Art damit dennoch ein Exot. Denn diese nutzen meist stattdessen ihre raue Zunge, um Pflanzen und Tiere vom Meeresgrund abzuweiden. Krebstiere zählen dabei nicht zur klassischen Nahrung von Meeresschnecken. Dass Bathydevius caudactylus diese frisst, könnte an deren Nährstofffülle und dem generell eher knappen Nahrungsangebot in seinem Lebensraum liegen, vermuten die Forscher.

Mehr Qualle als Meeresschnecke?

Auch in anderer Hinsicht ähnelt die neue Schnecke eher den Quallen: Dank ihres durchsichtigen Körpers ist sie nahezu unsichtbar und gut getarnt vor Fressfeinden. Zudem schwimmt sie nicht nur mit ihrem Schwanz, sondern indem sie ihren ganzen Körper auf und ab beugt. Oft lässt sie sich auch einfach bewegungslos mit der Strömung treiben. Wenn es schnell gehen muss, nutzt die Schnecke jedoch ein quallenähnliches Rückstoßprinzip: Sie schließt rasch ihre Mundhaube und kann sich so schnell rückwärts katapultieren.

Auch Atmung und Stoffwechsel der Schnecke sind ähnlich langsam wie die von Quallen, wie weitere Tests ergaben. Damit sind sie bestens an die sauerstoffarme Umgebung in der rund zwei Grad kalten Tiefsee angepasst.

Während die meisten Quallen jedoch getrenntgeschlechtlich sind, ist die neue Art wie andere Nacktschnecken ein Hermaphrodit, der sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsorgane besitzt. Darüber hinaus besitzt sie wie verwandte Schneckenarten auch einen muskulösen Fuß. Mit diesem setzt sie sich am schlammigen Meeresboden fest, um ihre Eier freizusetzen, wie die Forscher beobachteten. Demnach lebt die mysteriöse Schnecke zwar im offenen Wasser, sinkt zum Laichen jedoch auf den Boden hinab.

Biolumineszenz erzeugt bunt leuchtende Organe

Die mit Spezialkameras aufgezeichneten Filmaufnahmen enthüllten darüber hinaus, dass das Weichtier dank Biolumineszenz hell und bunt aufleuchtet, wenn es bedroht wird. Dabei scheinen die inneren Organe durch die durchsichtige Haut durch. „Der Magen ist typischerweise rot, die runzelige Verdauungsdrüse ist orange oder braun und bei erwachsenen Tieren ist das Gonadengewebe auf der rechten Seite der Verdauungsdrüse undurchsichtig weiß“, schreibt das Team.

„Als wir das Leuchten zum ersten Mal filmten, stießen alle im Kontrollraum gleichzeitig ein lautes ‚Oooooh!‘ aus. Wir waren alle verzaubert von dem Anblick“, berichtet Haddock. Biolumineszenz ist im Tierreich weit verbreitet, bei Schnecken aber ungewöhnlich. Bathydevius caudactylus ist sogar erst die dritte Nacktschnecke, die im Zuge der Evolution dieses Merkmal entwickelt hat, wie das Team erklärt.

Das Leuchten soll wahrscheinlich Raubtiere abschrecken oder Beutetiere ablenken, vermuten die Biologen. Bei einer Gelegenheit beobachteten sie, wie das Tier einen leuchtenden fingerartigen Vorsprung von seinem Schwanz als Köder ablöste – ähnlich wie eine Eidechse, die ihren Schwanz fallen lässt. Wie bei den Echsen wachsen auch die Daktylen der Meeresschnecke wieder nach.

Beispiel für biologische Vielfalt in der Tiefsee

Nach Ansicht der Forscher ist das Tier ein Beispiel dafür, wie viel es in der Tiefsee noch zu entdecken gibt. „Dass es ein relativ großes, einzigartiges und leuchtendes Tier gibt, das zu einer bisher unbekannten Familie gehört, unterstreicht die Bedeutung des Einsatzes neuer Technologien, um diese riesige Umgebung zu katalogisieren“, sagt Haddock. Das Wissen über das Leben in der Tiefsee könnte uns dann helfen, die Meere und ihre Bewohner besser zu schützen. „Unsere Entdeckung ist ein neues Puzzleteil, das dazu beitragen kann, den größten Lebensraum der Erde besser zu verstehen“, ergänzt Robison. (Deep Sea Research, 2024; doi: 10.1016/j.dsr.2024.104414)

Quelle: Monterey Bay Aquarium Research Institute (MBARI)

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